Hinweis: Mehr Informationen zum BIK-BITV-Prüfverfahren auf der Website bitvtest.de
Kürzlich kam folgende Frage auf:
Welchen Spielraum gibt es bei dem Prüfschritt „Blöcke überspringbar“? Hat man dazu Nutzer*innen gefragt?
Kurze Antwort für Ungeduldige: Es gibt keinen Spielraum. Blöcke müssen mittels Überschriften ODER Landmarks ODER Sprunglinks ODER anderen geeigneten Techniken übersprungen werden können.
Nutzerinnen spielen bei der Bewertung der Konformität keine Rolle!
Deren Anliegen hat man bedacht, als man die SCs der WCAG erstellt hat (und Nutzerinnenbedürfnisse spielen auch bei jeder neuen Version eine Rolle, der Prozess ist öffentlich und alle können sich über Mailinglisten, GitHub und solche Kanäle einbringen).
Beim Testen geht es „nur“ noch darum, ob die einmal festgelegten Kriterien erfüllt sind.
Die Standards gehen dabei von einer sinnvollen Umsetzung aus. Ich vergleiche das immer mit einem Haus, bei dem es einen fiktiven Prüfschritt „alle Räume ohne Stufen erreichbar“ gibt. Man kann jetzt an der Rückseite einen Fahrstuhl anbauen und den Zugang zum Fahrstuhl in die Tiefgarage legen. Formal sind dann alle Räume ohne Stufen erreichbar.
Leider kommen vor allem unerfahrene Entwickler und Webseitenbetreiber manchmal auf so „phantasievolle“ Lösungen. Diese führen dazu, dass Rollstuhlfahrer sowie Personen mit Rollator, Kinderwagen oder Handwagen vor den Haupteingang kommen, eine riesige Treppe, aber keinen Fahrstuhl sehen und wieder gehen. Weder der Hausbesitzer etwas davon, dass potentielle Kunden wieder gehen, noch natürlich die Kunden selber.
Heißt: Standards geben vor, alles muss erreichbar und bedienbar sein. Dass es „Lösungen“ gibt, die den Sinn solcher Vorgaben konterkarieren, kann kein noch so gut gemeinter Standard der Welt verhindern.
Was jetzt die Frage nach den Nutzenden angeht, sage ich immer absichtlich ein wenig provozierend: die wissen gar nicht, was sie wollen.
Oft sind Nutzer keine Experten/ Poweruser und wissen gar nicht, dass es schnellere und bequemere Lösungen für eine Aufgabe gibt als den Weg den sie (gerne) nutzen, weil sie es schon immer so gemacht haben.
Zeigt man einen besseren Weg gibt es zwei Arten von Nutzerinnen; die einen freuen sich und nehmen die Erleichterung dankend zur Kenntnis, die anderen möchten bei ihren Gewohnheiten bleiben.
Welchen Weg soll man jetzt bei einer Prüfung berücksichtigen? Den objektiv technisch besseren oder den beliebteren (auf die Gefahr hin, dass der bessere beliebter sein wird, wenn er sich rumgesprochen hat)?
Die WCAG ist absichtlich technik-neutral formuliert. Oft ist es am besten, man lässt dem Nutzer die Wahl, z.B. bei der internen Seitennavigation, d.h. es sollte mittels Skiplinks, Überschriften, Landmarks (Orientierungspunkte) und anderen best practices auf den Seiten navigiert werden können.
Gefordert ist aber nur eine dieser drei Möglichkeiten (ODER). Und würde morgen eine weitere Möglichkeit zum Überspringen von Blöcken erfunden werden, wäre die auch zulässig, sogar wenn diese nicht explizit in den „sufficient techniques“ (Techniken, die zum Erfüllen von Erfolgskriterien geeignet sind) genannt wird: die sind nur Beispiele und nicht normativ. Sie dienen nur der Information.
Außerdem: wie viele Nutzerinnen müsste man fragen, um ein repräsentatives Bild zu erhalten? Wenn es um die Anwenderinnen von Hilfsmitteln geht, reden wir nicht von Millionen oder Milliarden von Nutzern. Und wen genau fragen wir? Nur Screenreadernutzerinnen oder auch Tastaturnutzerinnen ohne Screenreader? Nur blinde SR-Nutzerinnen oder auch sehende?
In all diesen Gruppen gibt es große regionale Unterschiede in Bezug auf Verhalten und Vorlieben. Weiter unten gehe ich noch darauf ein.
Welche Maßstäbe wären bei der Auswertung zu berücksichtigen? Wie wäre zu gewichten? Nach welchen Kriterien? Wer legt die fest?
Ganz schwieriges Thema…
Nutzer haben eigentlich nur eine Chance, sinnvoll Einfluss zu nehmen: sich bei der Weiterentwicklung der WCAG einzubringen. Wenn die Kriterien erst mal stehen, kann man als Prüfer nur die Einhaltung der Vorgaben überprüfen.
Um auch das mal ganz klar zu sagen: die Betroffenen werden nicht übergangen: Die Working Group fordert aktiv zur Beteiligung auf! Logischerweise können nur vorgetragene Bedürfnisse berücksichtigt werden…
Aber Dreiviertel der erfahrenen Screenreadernutzerinnen finden Überschriften toll!
Quelle: https://webaim.org/projects/screenreadersurvey9/#heading
Wenn es danach geht, bräuchten wir gar keine Möglichkeit, Blöcke per Tastatur zu überspringen: 99% der Nutzer machen das mit der Maus.
Solche Zahlen halte ich daher für ABSOLUT irrelevant. Barrierefreiheit kümmert sich immer um die 1 bis 2 Prozent an den Rändern. Die Mehrheit hat hier nicht zu bestimmen.
Auch gibt es kein Erfolgskriterium das fordert, irgendetwas müsse besonders bequem für eine bestimmte Gruppe (erfahrene SR-Nutzer) zugänglich sein.
Also: Die beste Lösung für alle Nutzer ist und bleibt: man bietet Überschriften, Skiplinks und Landmarks an. Dann hätte jeder seine Lieblingslösung dabei. Die WCAG fordert aber nicht jedem seine Lieblingslösung anzubieten, sondern mindestens eine barrierefreie Möglichkeit. Die dann bequem nutzbar zu machen ist übrigens Aufgabe der Browser, Screenreader und anderer Software, mit der auf Webseiten zugegriffen wird.
Ein weiteres Problem mit der Statistik: wie kommt diese zustande? Wenn Landmarks im beliebtesten Client (weltweit JAWS) nach einem Update viel komfortabler nutzbar wären als Überschriften, was ergäbe dann die nächste Umfrage? Schreibt man dann die Standards für Barrierefreiheit neu? ;-)
Es macht schon alles ziemlich viel Sinn wie es aktuell geregelt ist.
Ich verstehe die Absicht hinter solchen Statistiken und nutze solche Quellen auch. Es ist schließlich spannend und sinnvoll, seine Nutzer zu kennen. Nicht nur aus Statistiken, sondern selbstverständlich auch aus persönlichen Kontakten.
Obwohl ich weiß, was sich Blinde wünschen, setze ich immer mindestens einen Link zum Hauptinhalt und zur Suche und zeichne mein HTML durchgehend sauber aus. Auf längeren Seiten gebe ich gerne ein verlinktes Inhaltsverzeichnis mit. Bei mir bekommen Nutzer tatsächlich alle Möglichkeiten. Die werden dann auch gerne von menschen ohne Behinderung genutzt: genau wie der leicht auffindbare Aufzug am barrierefrei gebauten Haus.
Nur verlangt das eben kein SC und daher auch nicht der BIK-BITV-Test.
Wenn Sie bei der Weiterentwicklung der Prüfschritte mitwirken oder die Historie verfolgen möchten, besuchen Sie gerne das öffentliche BIK-BITV-Test-Repository auf Github.
Noch Fragen?
Nehmen Sie gerne Kontakt zu mir auf. Ich unterstütze Sie und Ihre Organisation gerne bei der barrierefreien Digitalisierung Ihrer Arbeitsabläufe, Webauftritte und Apps.
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